Bensheim - Haus am Markt

fotos: copyright regina trabold
fotos: copyright regina trabold

 3. August 2019

 

KOMMENTAR

 

Mutige Kehrtwende

 

Auf dem Benheimer Marktplatz ist die Meinung am Samstag einhellig und entspricht dem, was Bürgermeister Rolf Richter über seine Pressestelle hat verlauten lassen: Nachdem der Blick auf St. Georg nicht mehr vom Haus am Markt verstellt wird, sollte darüber nachgedacht werden, ob auf die geplante Neubebauung nicht verzichtet werden könnte. Ein späte Einsicht, aber besser spät als gar nicht, hieß allenthalben. Der Bürgermeister hat die Reißleine gezogen, offenbar allerdings ohne Vertreter des Stadtparlaments an seiner Entscheidung zu beteiligen. Das hatte nämlich beschlossen, ein Haus in ähnlicher Kubatur wie das jetzt niedergelegte zu bauen.  Offenbar beflügelten den Rathauschef die massiven Bedenken des „Bürgernetzwerks“ zur Kehrtwende. Dass sich die Junge Union hinter den CDU-Politiker Richter stellt und ihm Rückendeckung gibt („Bürgermeister zeigt Stärke“), verwundert nicht. Tatsächlich aber war es nicht nur das Netzwerk, sondern die Opposition in der Stadtverordnetenversammlung ebenso wie eine parteiübergreifenden „Vereinigung mutiger Bürger“, die das höchstpersönliche Moratorium des Bürgermeisters mitbefeuert haben. Die öffentliche Kritik an Richter und seiner Amtsführung, die Verquickung zwischen Rathaus und des Bauherren für das neue Haus, bringt die Volksseele zum Schäumen. Dass man mutig sein muss, um in diesem Land seine kritische Meinung zu artikulieren, darf zwar bezweifelt werden. Doch es könnte etwas daran sein, dass Richter seine Vorstellungen recht rigide durchzusetzen versteht. Und die Auffassung, dass ihm der optische Gewinn schon lange vor der parlamentarischen Entscheidung über eine Multifunktionsgebäude klar gewesen sein muss, ist schwer zu widerlegen. So erscheint sein Zurückrudern seinen Kritikern keineswegs als Zeichen der Stärke, sondern als ein Zurückschrecken vor dem bereits vorhandenen Zorn seiner Bürger. Richter hat sich ins Abseits manövriert – und seinen politischen Arm nicht mitgenommen. Das ist sehr mutig, denn es kann ihn den Kopf kosten. von Reiner Trabold

 

 

 

2. August 2019

 

Nichts mehr zu retten?

 

 

Freier Blick öffnet Richter die Augen

 

Nach dem Abriss des Hauses am Markt soll der Neubau noch einmal überdacht werden

 

Der Bensheimer Bürgermeister Rolf Richter ist ins Grübeln gekommen. „Jetzt, da der freie Blick auf St. Georg Realität ist, muss ich sagen, dass dieser Anblick optisch sehr gut rüberkommt. Und natürlich bewegen mich auch die vielen Kommentare zu diesem Thema“, heißt es in einer Mitteilung aus dem Rathaus. „Auch wenn das neue Gebäude formal beschlossen ist, zeigt sich, dass die deutliche Mehrzahl der Bürger, die das Thema bewegt und die sich dazu geäußert haben, den in dieser Form geplanten Neubau ablehnt und den freien Blick bevorzugt“, so Richter weiter.

„Mir fällt dieser Schritt nicht leicht, weil ich von dem Konzept und dem Ziel der Belebung des Marktplatzes als zentraler Baustein für eine zukunftsfähige Innenstadt überzeugt bin“, betont Richter, „aber die Wirkung des freien Blicks auf St. Georg und die Meinungsäußerungen der Bürger haben bei mir zu einer Neubewertung geführt. Wenn in der Bürgerschaft ein Thema so extrem wahrgenommen wird und ein so eindeutiges Meinungsbild herrscht, fühle ich mich verpflichtet, dies aufzunehmen und neue Wege anzudenken.“

„Unser gemeinsames Ziel ist es, eine lebendige, zukunftsfähige Innenstadt zu erhalten. Hierbei arbeiten wir mit vielen Gruppen – zum Beispiel dem Bürgernetzwerk – und interessierten Bensheimerinnen und Bensheimer zusammen. In dieser Situation können wir uns kein Projekt leisten, das die Stadtgesellschaft spaltet“, sagt Richter.

Jetzt gelte es, den freien Blick auf St. Georg so weit wie möglich zu bewahren und trotzdem den Marktplatz durch Gastronomie zu beleben. Dazu brauche es aber Zeit, um neue Überlegungen anzustellen. Das „Cafe Extrablatt“ soll in die Planungen einbezogen und möglichst am Marktplatz angesiedelt werden. Für das Familienzentrum und die Hospizakademie müssten adäquate Alternativen gefunden werden. Ich empfehle allen, ihre bisherige Entscheidung und Meinung zu überprüfen und das Projekt „Belebung des Marktplatzes“ neu zu denken.

Richter hofft, dass der Wunsch der Bensheimer nach einem freien Blick auf St. Georg, das Ziel einer belebten Innenstadt und die Belange der Denkmalpflege unter einen Hut zu bringen sind. Hierzu werden jetzt die Gespräche neu aufgenommen.

von Reiner Trabold

 
 

KOMMENTAR

 

Lebendiger Markplatz Bensheim

 

Erst jetzt, wo der Blick auf St. Georg frei ist, wird Bürgermeister Rolf Richter schlau und kommt ins Grübeln. Mit etwas mehr Weitblick hätte er schon vor der Entscheidung, das Haus am Markt abzureißen, von der neuen Optik des Marktplatzes wissen müssen. Freilich war er noch ein junger Mann, als das neue Multifunktionsgebäude 1974 gebaut wurde und den Blick auf die Kirche verstellte, aber er muss sich noch erinnern können, wie es einmal war: Der Platz, an dem früher das alte Rathaus stand (es wurde im Krieg ein Raub der Flammen), war ein wenig dekorativer Abstellplatz für Autos. Damals wollte man mit dem Neubau zu viel, jetzt gibt es Pläne, den gleichen Fehler wieder zu begehen. Dabei gehört zu einem attraktiven Marktplatz mehr als ein Publikumsmagnet, wie es ein H&M oder ein Familienzentrum und eine Hospizakademie sein sollen. Bensheim braucht einen lebendigen Mittelpunkt, und dazu ist ein gastronomisches Konzept unerlässlich. Der Platz wird von seiner toten Ostseite erdrückt, im Norden sind es die leerstehenden Fachwerkruinen. Wären da nicht Zierden wie das Fachwerkhaus der Böhlers oder das Ensemble mit der Kaffee-Rösterei „Red Code“ sowie der Marktplatzbrunnen, auch der freie Blick auf St. Georg könnte das Bild dieses Marktplatzes nicht retten. Hier reicht es auch nicht aus, ein neues und teures Pflaster zu verlegen. Der Platz braucht den Wochenmarkt im Westen, eine Terrasse im Osten. Warum sollte es nicht ausreichen, hier einen Ausschank (warum nicht das zum Abriss freigegebene Haus des Weinguts der Stadt) für die Bensheimer Weine samt Café „Extrablatt“ zu etablieren, ohne dass dem Kirchberghäuschen das Publikum verloren ginge? Für so viel Weitblick hätte es sich tatsächlich gelohnt, das Haus am Markt abzutragen. von Reiner Trabold

 

 

fotos: copyright regina trabold