Heimat auf der Zunge

fotos: copyright regina trabold
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Delikatessen müssen etwas Besonderes bleiben -  Aus dem Leben eines Feinschmeckers  

 

 

 

Von Reiner Trabold

 

 

 

Schon oft habe ich mich gefragt, wie ich Feinschmecker wurde. Oder bin ich gar keiner? Woher kommt meine Leidenschaft fürs Kochen, die Fähigkeit des Genießens und in feinen Geschmäckern zu schwelgen? Darüber macht sich einer ja eigentlich keine Gedanken. Geschweige, dass man darüber schreibt. Was aber liegt näher für einen kochenden Schreiber oder schreibenden Koch, als seinen kulinarischen Lebenslauf nachlesbar zu machen?

 

Meine Erinnerung ans Essen reicht zurück bis zur Erbswurst in meiner Kindheit. Da war ich vielleicht sechs oder sieben. Meine Mutter hat die Instantsuppe von Knorr (wie ich nachgelesen habe, wurde sie schon im 19. Jahrhundert erfunden und diente den Soldaten im deutsch-französischen Krieg 1870/71  als Marschverpflegung) mit in Butter gebratenen Brotkrusteln (heute sagt man Croutons) und Speckwürfelchen zur Delikatesse gemacht. Mein Onkel Fritz hat den grünen Salat mit einem Dressing angemacht, das mir heute noch auf der Zunge liegt. Es war so banal delikat, bestand aus selbstgemachtem Essig, etwas Öl, viel Zucker und einer dicken Zehe Knoblauch. Die Knoblauch-Fahne verriet meiner Mutter, wo ich gerade eine Zwischenmahlzeit eingenommen hatte. Ich entsinne mich auch an meine ersten Kochversuche, die völlig daneben gingen, aber schon in den fünfziger Jahren von  Kreativität und Spontaneität geprägt waren. Ich habe noch den Geschmack der Weinschaumsoße (heute spräche man von einer Zabaione vom Apfelwein) im Gedächtnis, die es zu den armen Rittern aus altbackenen, in Milch getränkten und mit Eiermehl umhüllt ausgebacken Brötchenscheiben gab. Leckerbissen und ein Markstein in meiner kulinarischen Sozialisation. Heute weiß ich, wie sehr mich das Esserlebnis meiner Kindheit geprägt hat, und ich schmecke vieles heute gern wieder, wenn es mich an diese Zeit erinnert.

 

 

 

Früh habe ich begonnen, mir eigenes Küchenwissen anzueignen. Als Student verweigerte ich die Mensa, weil mich das Essen nicht schmecken wollte. Aber ich gönnte mir schon während des Studiums gern mal Delikatessen – und studierte wöchentlich eine Zeitschrift mit dem Titel „Menü“. Ich habe die Hefte mit den Rezepten von A bis Z zu mehreren Bänden geradezu verschlungen. Sie haben mir Appetit gemacht und mich auf den Geschmack gebracht.

 

Mit dem Kochen habe ich in den Achtzigern begonnen. Da habe ich auch die Vielfalt der Aromen entdeckt und die Exotik von Dingen, die inzwischen Küchenstandard geworden sind. Das war die Zeit, als ich für ein Bündel Basilikum noch in die Kleinmarkthalle nach Frankfurt fuhr. Ich entdeckte die nouvelle cuisine, schlemmte  in Illhäusern bei den Haeberlins oder in Wertheim-Bettingen bei Dieter Müller. In der „Schwarzwaldstube“ von Harald Wohlfarth in Baiersbronn oder im Hotel Barreiss ließ ich ein Vermögen. Natürlich ging ich nicht bei Witzigmann in der „Aubergine“ in München ein und aus wie Baby Schimmerlos, aber ich war da, weil man mal bei Witzigmann gewesen sein musste. In Ernos Bistro in Frankfurt habe ich mich in die Gänsestopfleber mit lauwarmer Brioche und einen grandiosen  Sauternes verliebt, in der Ente in  Wiesbaden erstmals den Dialog der Früchte genossen, und ich bin dem guten Ruf des Ettlinger Erbprinzen gefolgt. Bei Urgesteinen der neuen deutschen Küche wie Koniarski in der Kirchmühle in Pfungstadt  oder der Rotisserie Dubs am Rhein habe ich geschlemmt, meine ersten Gourmetimpressionen gesammelt. Das inspirierte mich, aber fasziniert hat mich weniger der Schnickschnack, sondern gelungene Geschmackskompositionen. Ich gebe zu, dass ich bei Experimenten oft baden gegangen bin, weil mir das Handwerkszeug fehlte und weil ich schon immer lieber improvisierte, noch heute ohne Küchenwaage auskomme. Ich habe mir autodidaktisch viele Dinge beigebracht und von einer Kochlehre geträumt, während ich meine ersten Leitartikel über die Politik schrieb. Das Kochen am Wochenende artete nicht selten aus. Ein Samstag in der Küche war und ist mir noch heute wie eine Woche Urlaub.

 

Ich entdeckte Anfang der achtziger Jahre Italien und hier vornehmlich die Toskana, erlebte in den folgenden Jahren den Ansturm des tedeschi auf den Stiefel, brachte mir Olio extra vergine, Pecorino und aus Greve Falornis Wildschweinschinken mit, besuchte die fette Miranda in Radda und Antinori in Bolgheri, trank Tignanello und Sassiscia in einer einfachen Pizzeria. Kult wurden die Weine später. Wir saßen unter einer uralten Kastanie in der Fattoria di Rignana und genossen die herzhafte Finocchiona, und die Bistecchi vom Chianina, bevor die toskanischen Hügel von Touristen überrannt wurden. Wir fanden eher zufällig das Ristorante von Claudia Bagnoli in den Wäldern bei Castagneto Carducci, wo ich die Ursprünglichkeit  italienischer Küche, aber auch die Kommunikation am Tisch  schätzen lernte. Claudias Antipasti, ihre Crostini und Bruschete, einfach nur in Olivenöl eingelegt, geröstet und mit dünnen Tomatenscheiben belegt, Carpaccio vom Kalb und gehobeltem Pecorino, lange dünn geschnittene Zucchinischeiben, gegrillt, serviert in einer köstlich einfachen Öl-Essig-Marinade mit gehackten grünen Oliven und Kräutern. Und dann diese weißen Bohnen, die Fagiolini, gegart in einer leeren Fiasco, der typischen Chianti-Ballonflasche, mit Öl, Essig und Zwiebelchen. Ich komme ins Schwelgen, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

 

Ganz sicher hat diese Zeit nicht nur mein Geschmacksempfinden geprägt, sondern mir auch eine völlig neue Esskultur vermittelt, eine Esskultur, wie ich sie übrigens bei nur ganz wenigen Italienern in Deutschland auch nur ansatzweise gefunden habe. Ich brachte Jahr für Jahr mediterrane  Impressionen und Rezepte aus der cucina casalinga mit, kaufte mir eine Pastamaschine, füllte meine Tortellini und Ravioli selbst, entdeckte nach dem Eau de Vie aus dem Elsass die Grappe und die Magie des Espresso. Ich schmökerte schon früh in der Zeitschrift „Essen und Trinken“, las den „Feinschmecker“, abonnierte das „internationale Magazin für gutes Essen“ mit dem vielsagenden Titel „Gourmet“. Inzwischen hat sich meine Kochbuchsammlung mit mehr als 500 Bänden in den Bücherregalen breitgemacht. Noch lange bevor Johann Lafer im Fernsehen Karriere machte, entdeckte ich sein „Val d’Or“ in Guldental. Alfons Schuhbeck besuchten wir in Waging am See, als er noch selbst im Restaurant von Tisch zu Tisch ging. Klar, dass ich bei meiner Zeitung in Darmstadt auf eine Gastro-Kolumne drängte. Aber es dauerte bis Ende der achtziger Jahre, bis sie im ECHO auftauchte, eine der meistgelesenen Rubriken des Blattes. Das war alles noch lange, bevor die Fernsehköche die Mattscheibe eroberten und uns Jamie Oliver zeigte, wie ein Stück Lachs auf Kräutern in einer alten Keksdose geräuchert wird. Während die einen die Molekularküche über den Klee loben, die jungen Wilden Aromen aus Ost mit West kreuzen, entdecken immer mehr Menschen den höchsten Genuss im Bodenständigen, Ursprünglichen, Unverfälschten. Womit also könnte ich diese für ein  Kochbuch gedachtes Stück Papier beschriften? Mein Lieblingsessen?

 

 

 

Ich könnte die beiden Küchenchefs Michael Wendt („Oben“ in Bensheim) oder Andreas Deschamps („Evas Restaurant“ in Pfungstadt) fragen, mit denen ich seit vielen Jahren befreundet bin, um ein Rezept bitten.

 

Schwer zu sagen. Mein Geschmack ist geprägt von fünf Jahrzehnten, aber ich bin noch immer neugierig und gespannt auf das, was mir einfallsreiche Köche vorsetzen und kann mich über jeden Leckerbissen freuen.

 

Sternekoch Roger Souvereygns, auf  dessen „Scholteshof“ in Flandern ich meinen 50. feierte, der Kreateur schlechthin, sagte auf die Frage nach seinem Lieblingsgericht überraschend: „Schmortopf. Er sollte herzhaft und volkstümlich zubereitet, aber nicht verkocht sein.“ So einfach ist das. Es muss nicht immer Kaviar sein. Ich liebe Stopfleber, aber ich genieße auch einen herzhaften Handkäse aus dem Odenwald. Ich kann mich fürs kalte Sushi erwärmen, kehre aber auch gern dort ein, wo ich noch echte Russische Eier kriege – eine Rückkehr in meine Kindheit.

 

 

 

Ein Gericht, für das ich das meiste andere stehen lasse: Himmel und Erde auf meine Art.

 

Dazu braucht man eine gute, luftgetrocknete Blutwurst. Mehlig kochende Kartoffeln schälen, würfeln in wenig Salzwasser garen, abgießen und Kochwasser auffangen. Kartoffeln ausdampfen lassen. Viertel Liter Sahne zum Kochen bringen, die Kartoffeln durch eine Presse (Flotte Lotte geht auch) in die Sahne drücken, fünf Esslöffel Butter dazu geben und gut durchrühren. So viel Kartoffelkochwasser dazu gießen, bis das Püree cremig ist. Mit Salz, Pfeffer und nicht zu wenig frisch gemahlener Muskatnuss abschmecken und warm stellen. Zwei große Äpfel vierteln, entkernen und jedes Viertel noch einmal längs durchschneiden. Drei Esslöffel Zucker in einer weiten Pfanne hell karamellisieren. Die Apfelschnitze darin kurz wenden, eine Zimtstange sowie zwei Gewürznelken hinzugeben und mit einem halben Liter trockenen Weißwein auffüllen (Vorsicht, es schäumt). Die Äpfel bei milder Hitze zehn Minuten garen. Dann auf einem Teller parken, die Kochflüssigkeit zum Sirup einkochen. Ein halbes Pfund Zwiebelringe in zwei Esslöffel Keimöl knusprig braun braten. Die Blutwurst in etwa eineinhalb Zentimeter dicke Scheiben schneiden, in Mehl wenden und in heißem Schweine- oder Butterschmalz auf jeder Seite knapp eine Minute braten. Das Püree mit Zwiebeln auf vorgewärmten Tellern häufen, daneben ein paar Apfelspalten und auf die andere Seite die Blutwurstscheiben legen. Die Apfelspalten mit etwas Sirup beträufeln. Mit Schnittlauch bestreuen. Hm. Es ist ein Stück Heimat auf der Zunge.