Das Leben des verstorbenen             Karl Schneider

fotos: copyright regina trabold
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14. Dezember 2020

Nachruf Karl Schneider

 

von reiner trabold

Er war ein Kämpfer. Bis zum Ende in der Nacht von Samstag auf Sonntag (12.12.2020) hat sich Karl Schneider an dieses Leben geklammert und wollte nicht aufgeben. Nach einem Sturz zu Hause in Bickenbach war er in der Klinik in Darmstadt behandelt worden und auf dem Weg der Besserung, teilte seine Frau Rosemarie am Wochenende mit. Die Kraft reichte nicht. Der 1934 in Mainflingen geborene frühere Staatsminister starb überraschend in der ambulanten Reha in Bickenbach, wo er wieder auf die Beine kommen sollte. Bei einer Trauerfeier will die Familie im engsten Kreis kurz vor Weihnachten Abschied von ihm nehmen. Beigesetzt wird Karl Schneider im Familiengrab in Mainflingen. Mit seiner Frau Rosemarie hat Schneider eine Tochter und war Großvater von zwei Enkeln. Er trat 1954 in die SPD ein und war ein aufrechter Sozialdemokrat.

 

40 Jahre lang habe ich Karl Schneider als Journalist und seit vielen Jahren als Freund begleitet. 2017 habe ich den Verstorbenen in einer Biografie unter dem Titel „Spurensuche“ gewürdigt. Das 2016 erschienene Buch wurde von der SPD-Landtagsabgeordneten Heike Hofmann initiiert und unterstützt von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben.

 

2015 habe ich mich auf die Spurensuche im Leben des früheren hessischen Umwelt-, Kultusministers und rheinland-pfälzischen Landwirtschaftsministers begeben. Unsere Wege kreuzten sich bereits Anfang der 80er Jahre. Als Jungredakteur, von 1980 bis 1989 stellvertretender Ressortleiter Politik und Nachrichten, von 1993 bis 2014 Chef der Lokalredaktion Darmstadt-Dieburg beim Darmstädter Echo, lernte ich Karl Schneider bei den damals häufigen Presseveranstaltungen kennen. Es gab auch damals viel zu berichten und zu kommentieren über Umweltthemen wie die Verschmutzung des Mains, den umstrittenen Flughafenausbau, den Wasser- mangel im hessischen Ried, den Müllnotstand und die Grube Messel, die Sondermüllproblematik und die Atompolitik.

 

„Aus dem Archiv im Keller“

 

In einem prall gefüllten Ordner sind Karl Schneiders Reden gesammelt. Es sei nur eine kleine Auswahl, hat er mir bei der Übergabe des Waschkorbs gesagt, in dem ein Teil seines politischen Lebens verstaut ist. Der frühere hessische Umwelt- und Kultusminister hat sein umfangreiches Archiv durchstöbert und sein Leben als Berufspolitiker aus dem Keller zu Tage gefördert. Sich durch die Hinterlassenschaft zu lesen, ist kurzweilig, denn es finden sich immer wieder Stellen, die den Weitblick eines Mannes bezeugen, der über Jahre Landespolitik an vorderer Front mitgestaltet hat. Seine Frau Rosemarie erzählt mir, wie ihr Mann an manchen Tagen zufrieden und mit einem Lächeln von der Recherche aus dem Keller gekommen sei. Doch ebenso oft habe ihn das Studium der Vergangenheit in die Tiefe gerissen, und Karl sei sehr traurig gewesen. Wahrscheinlich weil ihn dann Ereignisse einholten, die er schon erfolgreich hinter sich gelassen glaubte. Enttäuschungen und Niederlagen, die manchmal schwer zu verkraften waren. Zu verlieren, gehöre zu seinem demokratischen Selbstverständnis, hat er sinngemäß mal gesagt, als er darauf angesprochen wurde, ob ihn nicht ins Mark getroffen habe, dass ihn seine Partei nicht als Abgeordneten nach Bonn schicken wollte. In Bonn, damals noch die politische Hauptstadt der Bundesrepublik und in dem Jahr, in dem Deutschland wieder eins wurde, verweigerte sich ihm die Parteibasis. In der großen Politik hätte Karl Schneider sicherlich noch eine Menge bewirkt. Dass ihm seine SPD diese Chance nicht geben wollte, zeigte klar und deutlich, dass er durch seine Belastung im Ministeramt, aber auch durch sein konsequentes Umdenken in vielen Bereichen, die Mehrheit nicht mehr für sich gewinnen konnte. Er sei vom Saulus zum Paulus geworden, beschreibt es sein politischer Weggefährte Dietmar Schöbel.

 

Es ist schon 40 Jahre her, als Karl Schneider vom Fraktionschef zum Staatsminister für Landesentwicklung, Umwelt, Landwirtschaft und Forsten wurde. Eine Woche vor seinem 46. Geburtstag wurde er am 13. Mai 1980 von Ministerpräsident Holger Börner ins sozialliberale Kabinett geholt und vereidigt.

 

Sein Vorgänger Willi Görlach hatte das Ministerium nicht in den Griff bekommen. Viele trauten Schneider zwar zu, es besser zu machen, aber angesichts der Fülle von Aufgaben und Streitthemen zweifelten auch viele daran, dass er den „Laden“ würde managen können. In der Umweltpolitik war einiges am Köcheln: Der Main eine Kloake, die Startbahn West ein Pulverfass, die Giftmülldeponie in seiner Heimatstadt Mainhausen mehr als umstritten, Proteste gegen die Grube Messel als Mülldeponie, das Trinkwasserreservoir Ried leergepumpt, die Atompolitik ein steter Zankapfel, wachsender Widerstand gegen die Brennelementefabrik in Hanau, im Forst ließ der saure Regen Bäume sterben, die Landwirtschaft musste neu ausgerichtet werden, der Koalitionspartner FDP stand kurz davor, der SPD den Rücken kehren.

 

Wer Schneider scheitern sah, wurde eines Besseren belehrt. Er packte an, organisierte seine Behörde neu und hatte den Mut, kritische Geister wie einen Jörg Jordan oder einen Fritz Vahrenholt („Seveso ist überall“) zu engagieren. Es war die Zeit, in der der Minister auch in mein journalistisches Blickfeld kam. Seine Themen wurden auch meine. Ich schrieb im ECHO Leitartikel zum Sauren Regen und Waldsterben, zur Wassernot und zur Grube Messel. Leidenschaftlich war seine Rede im Bundestag, in der er umweltfreundliche Autos forderte und im Alleingang in Hessen bereits bleifreies Benzin und Katalysatoren durchsetzte, welche in für den Export bestimmten Fahrzeugen längst eingebaut waren.

 

Schneider erkannte früh, dass im Umweltschutz gehandelt werden musste. Doch er konnte nicht verhindern, dass sich die Grünen im Sog der Auseinandersetzung um die Startbahn West als Partei formierten und erstarkten. Was viele auch in der SPD als vorübergehende Erscheinung abtaten, erwies sich als stabil. Die Grünen wurden zur neuen Kraft, die nicht nur im linken Lager fischten, weil viele Sozialdemokraten die grüne Bewegung nicht ernst nehmen wollten. Nach der Landtagwahl, bei der weder die Sozial- noch die Christdemokraten eine Mehrheit erhielten, sich die FDP mit dem Bruch mit den Sozialdemokraten ins Aus geschossen hatte, musste Börner von den Grünen toleriert regieren.

 

Der Jurist Schneider, ein resoluter Anwalt des Natur- und Umweltschutzes, gradlinig und aufrecht, manchem auch zu hölzern im Auftritt, kein Linker unter den Genossen und schon gar kein Freund der Grünen, wurde als Umweltminister abgesetzt. Das Ressort Umwelt wurde dem Sozialministerium von Armin Clauss zugeschlagen. Arbeit und Umwelt, das schien Sinn zu machen. Das Kultusministerium, von dem ihm nur die Schule und hierbei die Exekution der flächendeckenden Förderstufe blieben, war nicht seine Wahl. Er wurde regelrecht degradiert, manch einer sah es auch als Abstrafung. Es war nicht mehr weit bis hin zur Isolierung und der Abkehr nach der verlorenen Wahl 1987, als Walter Wallmann obsiegte und Kultusminister Christean Wagner mit dem „Schulfreiheitsgesetz“ vielerorts an den Schulen in Hessen den „Reset“-Knopf drückte. Da war der Minister aus Bickenbach urplötzlich wieder Landtagsabgeordneter.

 

Dass Karl Schneider nicht nur in Wiesbaden Zeichen setzte, sondern auch in die SPD im Landkreis Darmstadt-Dieburg führte, soll nicht vergessen werden. Denn dort fädelte er mit Weitsicht Rot-Grün ein, brachte den Ministerialrat im Wirtschaftsministerium Hans-Joachim (Little) Klein an den Start und setzte ihn als Landratskandidaten durch. Der rot-grüne Koalitionsvertrag im Kreis trug unverkennbar Schneiders Handschrift. Und Klein fand sich schnell in enger, von Sympathie getragener Zusammenarbeit mit der Grünen Karitas Hensel.

 

Die Parteibasis ließ Karl Schneider 1990 im Stich, als er sich für die große Politik in Bonn empfahl, sich aber der Darmstädter Banker Eike Ebert bei der Nominierung durchsetzte. Eine politische, aber auch menschliche Katastrophe, die Schneider allerdings fair wegsteckte. Es muss ein innerer Triumph gewesen sein, als Rudolf Scharping den Hessen ins Kabinett nach Rheinland-Pfalz holte, ihn in den Wahlkampf einband – und auf der anderen Seite des Rheins obsiegte. Karl Schneider bot sich eine neue Chance. Am 57. Geburtstag wurde er in Mainz Minister für Landwirtschaft und Weinbau, konnte seine Erfahrung einsetzen, scheute nicht, den Wein-Baronen und Agrar-Fürsten den neuen Weg zu weisen. Er setzte auch jenseits des Rheins Zeichen, erarbeitete mit dem Präsidenten des Instituts für Klima, Umwelt, Energie in Wuppertal, Ernst Ulrich von Weizsäcker, die „Mainzer Thesen für eine nachhaltige umweltgerechte Landwirtschaft in Europa“.

 

Auf der Suche nach den großen Fußstapfen des Vollblutpolitikers trifft man unwillkürlich auch auf die Spuren, die Karl Schneider auf vielen Wanderwegen hinterlassen hat. Sein Engagement fing früh beim Odenwaldklub an, und am Ende war er Präsident der Deutschen Gebirgs- und Wandervereine und Vizepräsident des Europäischen Wandervereinigung (EWV). Und er wäre nicht Karl Schneider, wenn er nicht auch bei den Wanderern vieles verändert und moderne Strukturen geschaffen hätte, die die Bewegung in die Zukunft ausrichteten. Rund 600.000 Wanderer sind im Deutschen Wanderverband (DWV) organisiert. Bundesweit verteilen sich die Mitglieder auf 58 regionale Wandervereine, die sich wiederum in etwa 3100 Ortsgruppen untergliedern. Seit 1912 richtet der DWV jährlich im Sommer den Deutschen Wandertag abwechselnd in einem der deutschen Mittelgebirge aus, zu dem Zehntausende kommen. Karl Schneider kultivierte das Thema Umwelt- und Naturschutz als einen Schwerpunkt der Verbandsarbeit, und unter seiner Ägide wurde die Initiative „wanderbares Deutschland“ gegründet.

 

„Von einem Achtzigjährigen kannst du ja nicht mehr viel erwarten“, sagte Karl Schneider kurz vor seinem 80. Geburtstag. Er traue sich nichts mehr zu, könne nicht mehr viel einbringen. „Mancher meint, ich hätte noch Einfluss.“ Er winkte lächelnd ab. „Irgendwo hat man den Kanal voll“, fügte er hinzu. Es habe keineswegs resigniert geklungen, eher nachdenklich und Weise, notierte ich damals im Darmstädter Echo.

 

Man ändere nichts, halte nichts mehr auf, sagte mir der Politiker. Es sei witzlos, darüber nachzudenken, der Zeitpunkt längst vorbei, an dem man Dinge „anders hätte steuern müssen“. Schneider sprach von einer „durchgehenden Entwicklung, die schief gelaufen ist“. Seine Bilanz ist einerseits von Erfolgen geprägt, andererseits hat ihm das Schicksal – auch in der Politik – manchen Streich gespielt.

 

2007 streckte ihn eine Gehirnblutung im Garten seines Hauses in Bickenbach nieder. Er wurde dank der schnellen Reaktion einer Nachbarin und seiner Frau Rosemarie gerettet, aber der Bewegungsapparat des zuvor agilen Mannes blieb zunächst stark eingeschränkt. Er fand zurück ins Leben, kam rechtzeitig zu Bewusstsein, um 2009 das Debakel seiner SPD in Hessen zu erleben und vorherzusagen, dass sie daran noch „lange zu knabbern“ haben werde. Es sei freilich für einen Unbeteiligten leicht zu sagen, man hätte das alles anders machen müssen.

 

Es gibt vieles zu sagen und auch zu schreiben über diesen Mann, der ein Stück hessische und deutsche Geschichte mitgeschrieben hat. Die Sammlung gleicht einer Spurensuche. Die Archive zu durchstöbern, in alten Zeitungsartikeln nachzulesen, daraus zu zitieren, sich seine Reden in Auszügen noch einmal in Erinnerung zu rufen, um die visionäre Ausstrahlung zu erkennen, ist allemal wert, hier gesammelt und veröffentlicht zu werden. Es hätten mehr Anekdoten sein dürfen, von denen Karl Schneider ein Füllhorn parat hatte und mit denen er nicht geizte, sie zu erzählen. Dies erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit jedem, der ihm begegnet ist, sind Erinnerungen verbunden. Nicht immer ausschließlich positive. Aber alles in allem stehen auf den folgenden Seiten Bruchstücke der Biografie eines Politikers, wie sie rar geworden sind.

 

Eine „Gedenkschrift“, wie es manch einer verstanden hat, der rückblickend das Wirken eines Staatsministers würdigt, sollte es nicht sein. Eher eine Überdenk- oder Nachdenkschrift diese unvollständige Sammlung von Fundstücken aus dem Leben eines Staatsministers a.D.

 

 

„Er war mein Vorbild“

 

SPD-Landtagsabgeordnete Heike Hofmann zum Tod von Karl Schneider

 

„Karl Schneider war für mich in vielerlei Hinsicht ein politisches Vorbild und eine herausragende Persönlichkeit. Ich werde ihn als kompetenten, visionären und durchsetzungsstarken Politiker in Erinnerung behalten“, würdigt die SPD-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende im Unterbezirk Darmstadt-Dieburg Heike Hofmann die „sehr erfolgreiche Politikerkarriere“ des Verstorbenen. Sie vertritt seit 20 Jahren Schneiders früheren Wahlkreis 51 in Wiesbaden. Er  habe sowohl als Fraktionschef der SPD-Landtagsfraktion als auch als Umwelt- und später Kultusminister in Hessen die Landespolitik geprägt.

 

Als elfjährige habe sie Karl Schneider erstmals bei einer SPD-Veranstaltung in Mühltal wahrgenommen, so Hofmann. Damals habe sie nicht ahnen können, dass es eben Schneider sein würde, der sie zur Kandidatur als Ersatzkandidatin für den Landtag im Wahlkreis ermutigen würde, den ihr Vorbild viele Jahre in Wiesbaden vertreten hatte.

 

 

LEBENSLAUF Karl Schneiders:  Seit 1954 in der SPD

 

Er sei sozusagen in die Politik hineingeboren, sagte Karl Schneider in einem Interview, das er 1991 dem „Bickenbacher Magazin“[i] gab. Im Elternhaus habe er seit seiner Kindheit ein politisches Leben um sich herum gehabt – oder „später erst richtig nachvollzogen, was das für Bürden mit sich bringen kann“. Sein Vater hatte in der nationalsozialistischen Zeit nicht nur Nachteile, er war auch verfolgt worden und wurde ins Gefängnis gesteckt. Er habe die Zeit nach dem Krieg erlebt, und es sei für ihn immer selbstverständlich gewesen, demokratisch zu denken. Er habe aber „nicht nur so nebenbei miterlebt“, was sich bis 1945 ereignete. „Ich war 1945 elf Jahre alt, und ich habe noch vieles in Erinnerung, was sich da vollzogen hat. Im Freundeskreis meiner Eltern, die unmittelbaren Erlebnisse in den Bombennächten und die schulische Prägung in der Nachkriegszeit“, berichtet Schneider aus seinen Kinderjahren.

 

„Meine Kindheit endet mit der Herrschaft der Nazis“, erzählt Karl Schneider von Zeiten, als der Unterricht mit dem Hitlergruß begann der Schulleiter in Seligenstadt ein bestellter Nationalsozialist war. Als der nach dem Krieg durch einen katholischen Geistlichen ersetzt wurde, wehte gleich ein anderer Wind. Damals wurden die Schüler streng nach Geschlecht getrennt. „Die Jungs saßen vorn, die Mädchen hinten. Es gab zwei getrennte Eingänge und einen Wassergraben zwischen Schülern und Schülerinnen im Pausenhof.“

 

Als Schneider mit vier Klassenkameraden 1952 vom katholischen Seligenstadt ans Gymnasium im evangelischen Groß-Umstadt wechselte, erlebte er das krasse Gegenteil. „Da waren beide Geschlechter bunt zusammengewürfelt.“ Er sei meist mit dem Rad vom Main in den Vorderen Odenwald gefahren, sagt Schneider. 1954 machte er Abitur.

 

Vater Josef, ein Sozialdemokrat, wurde 1948 Bürgermeister von Mainflingen. Damals begann für den jungen Karl Schneider das politische Leben. „Schon mit 14 wurde ich mit einbezogen, habe bei Vorstandsvorsitzungen und bei Wahlkämpfen mitgemacht, Entscheidungen mit beeinflusst. Ich war dabei. Und das setzte sich fort bis zum Abitur“, sagt Schneider. Er habe seine ersten Erfahrungen gesammelt. Und es habe ihn interessiert, was zu tun gewesen sei, Menschen für ein besseres Leben zu gewinnen. Der Vater habe für die Arbeiter-Wohlfahrt (AWO) Hilfsgüter verteilt, Flüchtlingen und Vertriebenen Quartiere verschafft.

 

1954 trat er in die SPD ein. „Ich wollte mit dazu beitragen, dass so etwas wie diese Nazi-Diktatur mit all ihren Gräueltaten nicht mehr passiert“, sagte er einmal im Gespräch mit dem ECHO. Und das könne man nur, wenn man sich in einer Demokratie engagiert, die die Chance zu einem freien, selbstbestimmten Leben garantiere. Dies sei ein entscheidender Punkt in seiner Sozialisation gewesen, der ihn bis ins hohe Alter präge und ihm immer wieder Kraft und Mut gegeben habe, für seine demokratischen Grundwerte einzustehen.

 

Nach dem Abitur begann Karl Schneider mit dem Jura-Studium in Frankfurt, wechselte 1956 nach Marburg. „Das mit Jura war Zufall, denn ich wollte eigentlich Wirtschaftswissenschaftler werden“, sagt er. Ein Professor habe ihn umgestimmt und für die Juristerei begeistert. 1959 machte er sein erstes Staatsexamen, und als Referendar kam er zur IG Metall nach Frankfurt. Dort wurden die Vermögenswerte ermittelt, die die Gewerkschaft an die Nationalsozialisten verloren hatte und nach dem Entschädigungsgesetz zurückforderte. Danach begann er sein dreieinhalbjähriges Referendariat in Hessen, unter anderem am Amtsgericht Seligenstadt. 1963 machte Schneider sein zweites Staatsexamen in Wiesbaden.

 

1960 heiratete Schneider seine Frau Rosemarie, die er während der Schulzeit kennengelernt hatte. Ihr sei aufgefallen, wie oft er bei einem Fahrradausflug nach Paris das Mädchen mit dem Lockenkopf fotografiert habe, stellte seine Cousine später fest und lag mit ihrer Vermutung richtig. Rosemarie war während der Kriegswirren von Saarbrücken nach Kleestadt verschlagen worden und so ans Max-Planck-Gymnasium in Groß-Umstadt gekommen.

 

 2.1.1972 -  Der gescheiterte Versuch, Bürgermeister zu werden

  

1972 wäre der Jurist und Sozialdemokrat Karl Schneider ums Haar Bürgermeister von Bensheim geworden, wo Wilhelm Kilian (CDU), seit 1954 Rathauschef, 1971 einem Herzinfarkt erlegen war und ein Nachfolger gesucht wurde. „Die Chancen, einen Wechsel herbeizuführen, standen gut“, erinnert sich Schneider. „Wir hatten die Mehrheit.“ Unter ‚Wir‘ versteht er ein Bündnis mit der FDP Doch es reichte nicht. Im ersten Wahlgang habe es noch ein Patt gegeben. Doch dann seien in der geheimen Abstimmung zwei Stadtverordnete abgesprungen. Wahrscheinlich die von der FDP, wurde vermutet. So wurde Georg Stolle Bürgermeister und blieb bis 2002 im Amt.

 

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