28. September 2019

 

Boris, der Brexit-Hasardeur

 

 

Es war auf einer großen Insel einmal ein Streit um den Kaisers Bart. Der wollte kein Ende nehmen… Zwischen Fantasy, Comedy und Daily News lässt sich nur noch schwer unterscheiden. Selbst der schwärzeste englische Humor verblasst im Licht der Realität. Wenn ich diesen Boris sehe, wie er die Her Majesty Lisbeth II. hinters Licht geführt und ihr untergejubelt hat, doch mal schnell das Beurlaubungsdekret fürs House of Commons abzunicken, bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Unglaublich. Wie bescheuert muss sich die gute Frau auf ihre alten Tage fühlen, diesem ungehobelten Prime Minister mit seinem Staatsstreich auf den Leim gegangen zu sein? Hatte sie keinen Justiziar im Haus, der ihr hätte flüstern können, was der Supreme Court, das höchste Gericht im Vereinigten Königreich, ein paar Wochen später einstimmig feststellen musste? Einerseits wird  Johnson Intelligenz nachgesagt.  Andererseits lassen seine Attacken gegen die EU genau das Gegenteil vermuten. Vielleicht zieht der Brexit-Hasardeur nach all den Rück- und Tiefschlägen zerschmettert am Boden liegend im letzten Augenblick noch ein Ass aus den Ärmel – und es gelingt ihm das Unmögliche: ein Deal und damit der geordnete Austritt aus einer EU, der die Briten ja angesichts der Stärke ihres Empires ohnehin nie richtig angehören wollten. Seit diesem unseligen Referendum, das mit Lügen und unlauteren Tricks für den Brexit ausging, haben sich weder Brüssel noch London mit Ruhm bekleckert. Im UK sind selbst die Willigsten und Geduldigsten mürbe und wollen jetzt nur noch raus aus Europa, sei es mit oder ohne Deal. Hauptsache endlich Ruhe. Die Chance für Boris. Rücktritt, Neuwahlen – sich als Nationalheld feiern lassen, zieht wieder in Number 10 ein,eint das entzweite Königreich samt seiner zerschlagenen Torys. Und wenn sie nicht gestorben sind, regieren sie noch morgen. Reiner Trabold

 

 

 

26. September 2019

 

Großversuch mit Bürgern

 

In Bensheim läuft ein Großversuch, wie der Dialog mit dem Bürger aussehen kann. Der Anlauf dazu ist am Mittwochabend im proppenvollen Saal des Kolpinghauses gelungen. Am Ende hinterließen mehr als 200 Bürger auf 10 Pinnwänden ungezählt um die 500 Vorschläge, wie sie sich den Marktplatz der Zukunft vorstellen. Ergebnisoffen lautet das Zauberwort. In weniger als einem Jahr wird feststehen, ob das Experiment der direkten Bürgerbeteiligung gelungen ist und das Ergebnis so, dass der heute fast leblose Platz im Herzen der Stadt ein belebter Treffpunkt für die Bevölkerung wird – und zwischen St. Georg im Marktplatzbrunnen und der Kirche im Osten Blickkontakt besteht. Dies unterscheidet sich durchaus von dem, wie der Marktplatz historisch genutzt wurde. Denn an der Stelle, wo das jetzt niedergelegte Haus am Markt stand, dominierte über Jahrhunderte ein dreigeschossiges Rathaus den Platz. Endlich stellte die Denkmalschutzbehörde klar, dass von ihr aus kein Zwang dazu besteht, an gleicher Stelle ein neues Haus in gleicher Kubatur zu bauen. Und so ist klar: Die Prämisse, nach der die Politik den Platz beleben wollte (nämlich mit einem neuen, aber anders genutzten Haus am Markt), ist hinfällig. Es ist dem Bürgernetzwerk („mitdenken, mitreden, mitgestalten“) zu verdanken, dass eine Lösung gefunden werden kann, die auf breite Akzeptanz stößt. Es ist auch ein Verdienst des Bürgermeisters, dass er von der bereits beschlossenen Umsetzung ablässt, nachdem alle gesehen haben, was der Platz ohne Monumentalbau hergibt. Das Stadtparlament ist ihm dabei gefolgt.

 

Politiker behaupten ja gern, sie müssten den Bürger mitnehmen. Und entscheiden dann doch in ihren gewählten Gremien. Dabei kommt manchmal heraus, was sich einflussreiche Lobbyisten zu ihrem Vorteil vorstellen. Die Demokratie beginnt gerade, nicht nur auf laute Bürgerinitiativen zu reagieren, sondern mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sie sollen nicht nur einmal alle vier, fünf oder sechs Jahre ihre Stimme an ihre politischen Vertreter abgeben, sondern mitdenken und mitentscheiden können - und ernst zu nehmen, was sie zu sagen haben. Reiner Trabold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

22. September 2019

 

„Die Welt steht auf“,

 

titelt die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe zum Wochenende. Das stimmt zwar zum Teil, denn es haben gestern Millionen für mehr Klimaschutz demonstriert. Dass die „Welt“, also die Menschheit, sich erheben würde, ist freilich Wunschdenken. Aber immerhin. Eindrucksvoll ist der Protest und wirkungsvoll dazu. Denn unter den Druck der Straße und der von einem Mädchen initiierten Schulstreik, regt sich die Politik. Endlich. Wenn ich bedenke, dass das Thema Klima von Politikern noch vor kurzem vor allem diskutiert wurde, ist das jetzt nach vorgelegte Sammelsurium von vielen Einzelmaßnahmen unserer GroKo gegen den Ausstoß von Treibhausgasen zumindest mal ein Anfang. In den Augen junger Menschen muss das mühsam geschusterte Päckchen wie blanker Hohn wirken. Denn bei genauerem Hinsehen wird sichtbar, dass das über 20 Stunden herzlich wenig zustande gebracht worden ist. Selbst wer wenig erwartet hatte, ist enttäuscht worden. Vorgelegt wurde nur der vorsichtige Versuch, den Dampfer in die richtige Richtung zu lenken, ohne ihn zum Kentern zu bringen. Klar ist schon jetzt, dass die Maßnahmen Geld kosten. Viel Geld.  Gleichwohl feststeht, dass es erheblich mehr kostet, gar nichts zu tun, werden die Milliardenprogramme des Staates vom Geld der Bürger finanziert.  Eine „Bepreisung“ von CO2 trifft alle. Wer schon klimafreundlich zu leben versucht, darf  zufrieden feststellen, dass jetzt auch andere zur Kasse gebeten werden. Wer dadurch den Wohlstand in Gefahr sieht,  hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Wir müssen raus aus der Komfortzone, um noch etwas zu retten.  Wenn die „Klimakanzlerin“ ihr Konzept „nachschärfen“ will, frage ich mich, warum sie nicht jetzt schon entschiedener  vorgeh. Bleibt zu hoffe, dass die Welt den Hintern hochbekommt, bevor sie im steigenden Wasser sitzt. Reiner Trabold

 

 

16. September 2019

 

Warum nicht Tempo 110?

In diesen Tagen der Internationalen Automobilmesse und kurz vor der Präsentation eines Klimaschutzkonzepts der Großen Koalition wird viel über Wege zur Verringerung des CO2-Ausstoßes diskutiert. Ob er über eine Steuer bepreist werden muss oder ob ein Handel mit Emissionszertifikaten wirkungsvoller ist, ist umstritten. Unbestritten ist freilich, dass Deutschland das Klimaschutzziel krachend verfehlt hat und die Zeit drängt. Sozial verträglich müsse es sein, möglichst kostenneutral, aber wirkungsvoll. Nicht nur ich bin gespannt, wie das Konzept greift und wie es sich mit dem Markt verträgt. Die deutschen Autobauer wollen jedem gerecht werden: dem Öko mit Elektromobilität, dem Autofan mit gewichtigen Sport Utility Vehicles (SUV) und schnellen Luxuslimousinen. Sicher wäre der Drohnenangriff jemenitischer Rebellen auf saudische Ölfelder ein Beitrag, den Benzinpreis so in die Höhe zu treiben, dass nur noch die reichsten unter uns das Autofahren finanzieren können. Aber wie es scheint, ist der arabische Anteil an unserem Ölimport zu gering, um sich dämpfend auf den Autoverkehr auszuwirken. Mein Vorschlag ist ebenso einfach umzusetzen wie wirkungsvoll: Die Raserei auf Autobahnen sollte endlich gebremst werden. 110 km/h reichen. Das reduziert mehr CO2 als die Flotte der e-Autos auf Jahre einsparen könnte. Mal sehen, ob diese einfache Maßnahme im Klimakonzept zu finden ist.  Reiner Trabold

 

 

13. September 2019

 

Wie die Fraa vun Bensem

Das Kolpinghaus in Bensheim wird am Mittwoch (25.9.19) rammelvoll sein. Denn das geht es um das heiße Eisen Marktplatz und um den Beschluss der Stadtverordneten, das Haus am Markt abzureißen und an gleicher Stelle ein neues Gebäude von ähnlichem Ausmaß zu errichten. Nach dem Abriss hatte sich nämlich gezeigt, was jedem klar sein musste. Ohne das Monstrum an der Ostseite wurde der Blick auf die Stadtkirche St. Georg frei und das optische Potenzial des Marktplatzes sichtbar. Offenbar bedurfte es des vor einem Jahr gegründeten Bürgerforums von Hans-Peter Meister und Karl-Heinz Schlitt, dem früheren Chefredakteur des BA, dem Rathauschef Rolf Richter die Augen zu öffnen. Denn mitten in die Sommerpause platzte er überraschend und ohne Abstimmung mit den parlamentarischen Gremien heraus, angesichts des freigeräumten Platzes solle noch einmal über seine künftige Verwendung nachgedacht werden. Jetzt ist in einer Mitteilung aus dem Rathaus die Rede davon, das Bürgerforum werde „im Schulterschluss mit den städtischen Gremien“ versuchen, „den gordischen Knoten rund um den ewigen Zankapfel Haus am Markt zu durchschlagen“. Meister und Schlitt, wollen – heißt es in einer Mitteilung – „zunächst ohne Wertung – Erwartungen und Ideen sammeln. Mit dabei ist am 25. September im Kolpinghaus auch Angela Exo, als „Expertin der Denkmalbehörde aus dem Landratsamt“. Dabei kommt hoffentlich auch zur Sprache, dass das Haus am Markt nur einer von mehreren „gordischen Knoten“ ist und wie mit dem baufälligen Ensemble an der Nordseite des Marktplatzes verfahren und dem Immobilien-Spekulanten endlich das Handwerk gelegt werden soll. 

Immerhin jetzt, wo der Stein ins Wasser geworfen ist und hohe Wellen schlägt, soll das „weitere Verfahren“ mit den Gremien der Stadt abgestimmt und vom Parlament abgesegnet werden. Wie heißt es so schön? „Hinnerum“ (wie die Fraa vum Bensem) artikuliert sich Bürgerwillen. Nach diesem Fallrückzieher muss der Beobachter an der Kompetenz der gewählten Volksvertreter zweifeln. Reiner Trabold

 

 

9. September 2019

 

Warum mit SUV?

Dass einer in Berlin mit einem Porsche-SUV „Macan“ vier Menschenleben ausgelöscht hat, sorgt für heftige Diskussionen über Sinn und Unsinn die „Sport Utility Vehicles“. Da unsere Kommunikation immer mehr von den sogenannten „sozialen Medien“ bestimmt wird, geht die Hexenjagd gegen Geländefahrzeuge in Innenstädten vor allem von ihnen aus. Eigentlich müssten die tonnenschweren Wagen wie die Dinosaurier längst ausgestorben sein, weil sie nicht mehr in die Zeit passen. Aber sie machen sich im wörtlichen Sinn immer breiter. Nein, hier geht es nicht um Neid, sondern um die Frage der Praktikabilität. Müssen Muttis oder Papis ihre Blagen tatsächlich mit einem platzraubenden SUV zum Hort oder in die Schule karren oder ihre Einkäufe mit einem geländegängigen Vierrad-Auto erledigen? Diese Frage darf, ja muss erlaubt sein, ohne den Hinweis auf einen tragischen Unfall, der mit jedem anderen Fahrzeug ähnlich hätte passieren können. Bedauerlicherweise lassen sich betuchte Käufer weder von Steuern noch hohen Benzinpreisen abschrecken. Gefragt ist auch nicht die Automobilindustrie, die bekanntlich die Fahrzeuge baut, die sich verkaufen lassen. Gefragt ist die öffentliche Meinung. Ohne Häme. Es ist traurig, dass ein schwerer Unfall notwendig war, die Diskussion über Sinn und Unsinn von Geländefahrzeugen auf unseren gut ausgebauten Straßen kurz vor der Automobilen Nabelschau in Frankfurt zu erzwingen. Sie ist überfällig. Reiner Trabold

 

 

 

6. September 2019

 

Peinlich, peinlich

„Embarrassing“ heißt auf Deutsch peinlich. Anders ist es nicht zu nennen, wie der britische Premier Boris Johnson vom House of Parliament düpiert wurde. Peinlich ist freilich weniger, dass und wie er krachend zwei Abstimmungen verlor, sondern seine Säuberungsaktion in der Fraktion der Tories. Wer von den Konservativen gegen Johnsons Durch-die-Wand-Kurs, einen No-Deal-Brexit, gestimmt hatte, wurde aus der Fraktion entfernt. Drunter altehrwürdige Abgeordnete wie Kenneth Clake, seit Ewigkeiten in der konsevativen Fraktion des Unterhauses, der seine Partei nicht mehr wiedererkannte. Im Ringen um den richtigen Weg aus der EU hat die Volksvertretung klar gemacht, wer Herr im Hause. Jetzt muss er nur noch erkennen, dass der ganze britische Egotrip Brexit nur embarrassing und „nuts“ (bekloppt) wie der Premier selbst. Es wäre dieses Spektakel in der ältesten Demokratie der Welt unter „die spinnen die Briten“ anzutun. Gewähte Abgeordnete die Rote Karte zu zeigen, damit hat der Streit neue Dimensionen gewonnen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich dieser machtgeile Selbstdarsteller Johnson bei einer von ihm selbst geforderten Neuwahl bei den mürbegekochten Briten nicht durchsetzt, sondern ein für alle Mal des Feldes verwiesen wird. Doch wie sich auch in den USA zeigt, ist die Stärke der Populisten die Schwäche ihrer Gegner. von Reiner Trabold

 

 

 

5. September 2019

 

Gespräche mit der AfD

Gleich zweifach hatte die AfD am Donnerstagabend im ZDF Gelegenheit, sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Ich habe beide Sendungen verfolgt und festgestellt, dass es weder Dunja Hayali noch Markus Lanz in ihren Talkshows gelungen ist, ihre Gesprächspartner, die AfD-Strategen Jörg Meuthen noch Alexander Gauland, in Verlegenheit zu bringen. Dabei waren beide Moderatoren sehr gut vorbereitet. Nur ein Beispiel: Lanz attackierte Gauland in der Diskussion um das Wahlergebnis der Rechtspopulisten in Sachsen. Und da zeigte sich bei genauerem Hinhören schon, was die Rechtsaußenpolitik angreifbar macht. Der Ausländeranteil sei in Sachsen so gering, dass er sich als Begründung für den Wahlerfolg der AfD nicht heranziehen lasse, argumentierte Lanz. Es sei doch in der Verantwortung Gaulands zu sagen, hier gehe es nicht um Empfindungen, „hier geht es um eine Zahl“. Das könne man so nicht sagen, kontert der AfD-Mann, denn das „Gefühl ist etwas sehr viel Stärkeres“. Berichte über westdeutsche Städte, die mit Integrationsproblemen zu kämpfen hätten, lösten die Sorgen im Osten aus. Unglaublich. Natürlich gab Gauland nicht zu, dass dieses „Gefühl“ von seiner Partei der Wortverdreher und Zündler durch Hassbotschaften tüchtig geschürt wird. In der Erklärung für das starke Abschneiden analysierte Gauland allerdings zutreffend: Wir sind so stark, weil die andern so schwach sind und so viele Fehler machen. Beide Talkrunden machten klar, dass der Kampf gegen die Nationalisten nur im Nahkampf zu gewinnen ist. Es ist falsch, ihnen das Feld zu überlassen. Dass sich punkten lässt, haben die beiden Spitzenpolitiker, Michael Kretschmer für die CDU in Sachsen, und Dietmar Woidke für die SPD in Brandenburg, im Schlussspurt des Wahlkampfes bewiesen. Sowohl die CDU als auch die SPD, in Berlin in einer schwachen Koalition vereint, haben ganz erhebliche Defizite in ihrer Selbstfindung und Darstellung. Hier eine abgehalfterte Kanzlerin auf dem Rückzug, dort Führungslosigkeit, Suche nach Schuldigen und Kursbestimmung. Das alles macht es der rechtsradikalen AfD leicht, sich ein bürgerliches Mäntelchen umzuhängen und mit größenteile hohlen Versprechungen die abzuholen, die von den mühsam um Kompromisse ringenden Etablierten enttäuscht sind. Beide Sendungen haben mir gezeigt, wie schwer die Meuthens und Gaulands zu stellen und als Protagonisten einer gefährlichen Entwicklung zu entlarven sind. Aber genau deshalb ist es so wichtig, mit ihnen zu reden – und genau zuzuhören. Reiner Trabold

  

 

 

4. September 2019

 

Dicke Luft

Der grüne Darmstädter OB im Frühstücksfernsehen. Direkt neben ihm die Messstation, gepaart mit einem Blitzer, in der Hügelstraße, in der – wie der Moderator betont – Menschen leben. Ein Blick auf die Fassade des mehrstöckigen Wohnhauses zeigt: Alle Rollläden sind unten. Wenn da überhaupt jemand wohnt, dann hat er alle Luken dicht gemacht und tut gut daran. Denn an der Stelle, wo sich Motorverkehr und Mensch treffen, hat es vielleicht eine Entspannung gegeben, weil der Wilhelminentunnel für Diesel-Schädlinge gesperrt ist. Dass viele dieses Verbot egal ist, zeigt die Auswertung der Radarfalle, die alle erfasst, die sich auch an die vorgeschriebenen 30 km/h nicht halten. Es ist auch zu registrieren, dass viele nicht nur zu schnell unterwegs sind, sondern auch in Fahrzeugen, die die Abgasnorm nicht erfüllen. Sie werden ordentlich zur Kasse gebeten (von 108.50 Euro Bußgeld und einem Punkt in Flensburg ist die Rede). Der OB sieht die Lösung in einer Stärkung des Radverkehrs, für den in seiner Amtszeit herzlich wenig getan wurde. Und beim zweiten Lösungsansatz, ein Mehr an ÖPNV, sieht es nicht anders aus. Über den Nahverkehr wird viel geredet, aber konkret passiert nicht viel. Immerhin gibt es eine Straßenbahn, die Studenten zur Uni auf der Lichtwiese bringt, die aber noch nicht einmal mit der Odenwaldbahn im Osten verknüpft wird, Mit einer Haltestelle und eine getaktete Verbindung an dieser Stelle, könnten Pendler nämlich direkt zum verkehrstechnisch überlasteten Luisenplatz kommen, von wo aus die Möglichkeit besteht, mit Busses und Bahnen weiterzufahren. Und natürlich wurde im Fernsehen nicht erwähnt, dass viele Luftprobleme in der Darmstädter City durch eine Nordostumgehung entschärft worden wären. Dass Stadt das den Grünen und ihrem Koalitionspartner CDU zu danken haben, soll aber zumindest an dieser Stelle deutlich gesagt werden. Reiner Trabold

 

 

 

Schluss damit!

Auch für einen Boris Johnson wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Sein Coup, das Unterhaus einfach zwangszubeurlauben, ist gescheitert. Die Parlamentarier haben ihm mal gezeigt, wer Herr im Haus ist. Gut so. Die Regierung hat ihre Mehrheit verloren. Gut so. Eigentlich Zeit für Neuwahlen. Wenn sich eine Mehrheit für ein Gesetz findet, das einen geordneten Brexit vorschreibt und den harten Ausstieg aus Europa zum 31. Oktober ausschließt. Ein Zeichen, dass der gute, alte britische Parlamentarismus noch am Leben ist. Aber ein Ausweg aus Europa hat es damit noch längst nicht gefunden. Ich frage mich, wann sich endlich die Einsicht durchsetzt, den auf vielen Täuschung beruhenden Brexit nach zwei Jahren der vergeblichen Anläufe einfach aufzugeben. Klar und deutlich haben sich bisher nur die britischen Liberalen für den Verbleib in der Union ausgesprochen. Wann folgt Labour? Hoffentlich sieht die Mehrheit der Briten bei einer Neuwahl ein, dass sie von Johnson und Konsorten wie Nigel Farage beim unseligen Referendum übers Ohr gehauen wurde. Und dass die Zukunft des Königreichs mit und in der EU sein muss. Die Europawahl haben sie ja schon mitmachen können, sind in Brüssel vertreten. Das sollte dauerhaft so sein. Schluss und Vorhang für das unwürdige Schauspiel, das uns in Westminister geboten wird! Reiner Trabold

 

 

 

3. September 2019

 

Ein Platz zum Leben

Wie vom Ballast befreit ist dieser Marktplatz, vor dem sich in diesen Tagen das Winzerfest austobt. Verschwunden ist diese gekünstelte Fassade eines Hauses, das die Piazza zu erdrücken drohte. Ich habe keinen getroffen, der es vermisst hätte. Und auch keinen, der sich ein ähnliche Bauwerk an seiner Stelle wünschen würde. Ganz so viele Menschen wie am Tag der Betriebe am Montag müssen sich ja hier nicht immer tummeln. Doch das Fest zeigt, dass es genug Weinfreunde gibt, um diesen Platz dauerhaft zu einem Mittelpunkt des Genusses zu machen. Ja, das muss es sein. „Genuss am Markt“, Weine der Stadt, eine bunte, junge, aber auch gepflegte Gastronomie mit kleinen Gaumenfreuden, ein Präsentierteller Bensheimer Lebensart. Bensheim, die Stadt des Weines, hat mehrere Weingüter und eine veritable Sektmanufaktur, die sich innerhalb kürzester Zeit einen internationalen Ruf verschafft hat. Doch bis auf das Sekthaus und das renommierte Weingut Mohr, beide im Griesel, sowie das der Stadt und der Betrieb von Jäger, die sich beide nach dem Zusammenschluss auf die grüne Wiese verabschieden, sind alle Winzer außerhalb angesiedelt. Rothweiler am Berliner Ring, Götzinger in Zell, Dingeldey in Gronau. Das junge Weingut „Schloss Schönberg“ zieht ins frühere „Montana“ in Auerbach. Umso mehr ich mich in den Gedanken vom Bergsträßer Wein an zentraler Stelle für den Bensheimer Wein verliebe, desto mehr frage ich mich, wie die Stadtpolitik dafür gestimmt hat, ein Monstrum durch ein anderes ersetzen zu wollen. Wie ist es möglich, dass erst jetzt die Optik überzeugt und sie sich vorher keiner vorstellen konnte? Es war doch immer klar, dass die dringend notwendige Belebung nicht durch einen Mode-Discounter wie H&M oder durch ein Familienzentrum, schon gar nicht durch den Hospizverein geschaffen (für den sich eine andere Bleibe findet) wird, auch nicht durch eine Neuauflage des Café „Extrablatt“, erst recht nicht durch einen „Ein-Euro-Laden“. Flair erhält der Marktplatz durch gastronomische Konzepte rund um den Bensheimer Wein dort, wo jetzt eine Baulücke klafft, dort wo an der Nordseite altes Fachwerk als Spekulationsobjekt baufällig leer steht. Was am Markt möglich ist, zeigt Kaffeeröster „Red Code“ auf der Südseite. Warum ist nicht Platz ist für eine Art erdgeschossige Markthalle, um die sich vormittags Verkaufsstände gruppieren und sich bis in den Abend Einkaufsbummler, Weinfreunde, Lebenskünstler und Genießer treffen – überragt von St. Georg und dem Panorama der Bergsträßer Weinberge. Reiner Trabold

 

 

 

2. September 2019

 

Von Dösköppen und Giftmischern

Ich tröste mich wie die Etablierten. Es hätte viel schlimmer kommen können. Aber dass eine Partei wie die SPD in Sachsen gerade noch so die Hürde schafft, finde ich nicht lustig. Und es fällt mir schwer zu begreifen, dass ein gutes Viertel der Wähler die AfD so stark macht, dass die Nationalisten daraus ableiten, an der Macht beteiligt zu werden. Kein Trost, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können. Was ist da nur los im Osten, der mit solidarischen Milliarden gepampert wurde und wird, sich aber dennoch vernachlässigt fühlt? Ist es wirklich so, dass die meisten Menschen mit Verstand in den Westen geflohen und zu viele braune Dösköppe geblieben sind? Wer redet diesen Sachsen ein, dass sie von aller Welt benachteiligt und zurückgelassen werden? Wo es ihnen doch recht gut geht und sie seit 30 Jahren gehen können, wohin sie möchten. Was ist schief gelaufen mit der Wiedervereinigung? Die moderne Kommunikation, in der falsche kaum noch von richtigen Nachrichten zu unterscheiden sind, spielt sicherlich eine Rolle. Fraglos haben sich die Alternativen für Deutschland inzwischen darauf spezialisiert, Informationen und Meldungen so zu manipulieren, wie es in ihren Kram passt. Dass verfälschte und eingefärbte Fakten zu einer verzerrten Wahrnehmung führen müssen, dürfte ebenso klar sein wie es kaum noch gelingt, „false news“ richtig zu stellen, wenn sie erst einmal in der Welt sind. Kurz: Es wird immer schwieriger, sich ein verlässliches Bild zu machen. Nun wäre es sicher ebenso falsch, das Wahlergebnis allein verfälschenden Neuen Medien nachzusagen. Doch ist es unbestritten, dass die sogenannten Etablierten es in dieser Medienwelt schwerer haben, Sachverhalte in ihrer Komplexität zu erklären und politisch zu bewerten. Die mühsame Suche nach Kompromissen ist von einer vereinfachenden Opposition leicht auszublenden. Es zeigt sich immer deutlicher, dass Parteien die Mechanismen der veränderten Aussagekraft noch nicht erkannt haben, sich hüten müssen, selbst auf die populistische Schiene zu geraten. Wie simpel es ist, in wenigen Worten Lügen aufzutischen und mit Hetze Meinung zu machen, beweist kein Kommunikator besser als der munter zwitschernde amerikanische Präsident mit seinen Tweeds ans einfach gestrickte Publikum. Hochgefährlich, diese Giftmischer. Doch wie kommt man ihnen bei? von Reiner Trabold

 

 

 

Unartig

Um sich als älteres Semester zu verdeutlichen, wie sehr sich die Zeiten und die Maßstäbe verschoben haben, fällt mir das Wort „artig“ ein. Es ist – zurecht – weitgehend aus unserem Wortschatz getilgt. Wir hatten als Kinder der Nachkriegsgeneration noch artig zu sein. Was stellen wir unter einem artigen Kind vor? Es ist so, wie es sich die Erwachsenen wünschen, ja, wie sie es erwarten. Es herrschte Zucht und Ordnung. Kinder lernten noch, artig den Sitzplatz für ältere Menschen zu räumen. Sie wussten sich zu benehmen, waren brav, folgsam, haben sich etwas sagen lassen und noch Bücher gelesen. War ich ein artiges Kind? Einzigartig. Auf meine Art, vielleicht. Das Wörtchen artig begegnet uns heute vor allem noch in der Medizin und bedeutet in Verbindung mit böse nichts Gutes und gut meist nichts Böses. Einerseits wünsche ich mir manchmal anders artige Kinder, die auf mich hören und dem folgen, was ich ihnen rate. Bequemer ist das allemal. Andererseits schreckt mich der bloße Gedanke daran ab. Ich lehne einen willfährigen, unkritischen Nachwuchs ab. Und deshalb bin ich froh, dass keines meiner vier Kinder artig war und ist. Nicht nur weil mir der Wortstamm „Art“ suspekt ist und ich allenfalls in der Tierhaltung den Begriff „artgerecht“ akzeptiere, sich mir bei der Vokabel „entartet“ die Haare stellen. Großartig, dass sich artig nicht nur aus dem Wortschatz, sondern auch aus der Pädagogik verabschiedet hat - und nicht Menschen groß gezogen werden, die einem Führer artig applaudierend ins Verderben folgen. Reiner Trabold