29. Dezember 2020

Schon seit Tagen drängt mich der Gedanke, das Jahr zu bilanzieren, kurz bevor der Kalender einen Schlussstrich zieht. Ich habe mich bislang gedrückt, weil ich noch nicht ganz schlüssig bin. Jetzt lese ich in der Süddeutschen den Aufruf, auf das Corona-Jahr zurück zu schauen und schreiben wie wir es er- und überlebt haben, wichtiger noch: Was wir daraus für die Zukunft mitnehmen. Ein anspruchsvoller Auftrag.

 

Wäre ich noch ein junger Hüpfer, fiele mir ein Rückblick wahrscheinlich leichter. Aber ich bin ein älterer Jahrgang, habe einen Schlaganfall hinter mir, leide unter Zucker und zu hohem Blutdruck, gehöre mithin zur Gruppe mit dem höchsten Risiko. Die Pandemie habe ich wie die meisten zunächst nicht ernst nehmen wollen. Weshalb ich zu denen gehöre, die im Frühjahr verwundert vor leergehamsterten Regalen standen. Und ich musste erkennen, dass dringend erforderliche Mund-Nasen-Masken in den Besitz einiger geschäftstüchtiger Mitmenschen gewechselt waren. Ich behalf mich mit meinem Halstuch, das ich mir über die Atmung zog. Zugleich gratulierte ich mir, fürs Seniorenheim nicht gebrechlich genug gewesen zu sein. Sonst säße ich nämlich in der Falle, müsste in Isolationshaft und zusehen, wie Freunde und Verwandte ausgesperrt werden, meine Pfleger aber lange Zeit weitgehend ungeschützt ein und aus gehen, das todbringende Virus ins Heim tragen. Ohne zu wissen, dass sie infiziert sind. Das ist die virale Heimtücke.

 

Für mich bedeutet die Krise eine Art permanenter Quarantäne und den Verzicht auf direkte soziale Kontakte. Ich lerne, dass das Wort Quarantäne etwas mit der Zahl 40 zu tun hat und „vulnerabel“ verletzbar bedeutet. Vokabeln wie Resilienz, das Gegenteil von Verwundbarkeit. „Querdenker“ waren für mich immer Menschen mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten, ein positiv besetzter Begriff für kritische Zeitgenossen, die nicht im Mainstream schwimmen und angeln. Mit der Seuche bemächtigten sich Wirrköpfe des Worts. Leugner, Dumpfbacken, Populisten, Autokraten, mithin Gegner der Demokratie. Sie wollen mir weismachen, das Virus werde von den Herrschenden missbraucht, um Rechte des Volks mit einem „Ermächtigungsgesetz“ zu beschneiden, sprechen von „Corona-Diktatur“. Wäre die Sache nicht so todernst, ich könnte mich darüber amüsieren.

 

Jetzt, da dieses Jahr endet, gibt es den ersehnten Impfstoff. Für viele verdächtig schnell. Skeptiker sind sofort zur Stelle und geifern alle möglichen Nebenwirkungen entgegen. Es ist allerdings auch klar geworden, dass es zu viele Menschen, viel zu wenig Impfstoff gibt. Es wird Monate braucht, um auch nur alle Vorerkrankten und Menschen über 60 zu impfen. Wenn wir etwas für die Zukunft gelernt haben, dann ist es Geduld, eine gerade bei Deutschen unterentwickelte Eigenschaft.

 

Es bleiben nicht nur Zweifel, es gibt auch Fragen: Warum musste die Risikogruppe bis Dezember warten, bis sie kostenlos mit FFP2-Masken versorgt wurde? Können Geimpfte andere infizieren? Sollten sie Sonderrechte genießen? Wir jetzt heiß diskutiert. Natürlich droht es die Gesellschaft zu spalten, wenn die ein Teil der Bevölkerung privilegiert wird. Der Staat kann das nicht entscheiden. Aber wer will einen Gastronomen daran hindern, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen und ausschließlich Gäste zu bewirten, die gegen das Virus abwehren können?

 

Fest steht, dass wir noch eine Weile mit dem Virus überleben müssen. Inzwischen sollte jeder wissen, dass allein durch Abstandhalten, Hygiene und Atemmasken (AHA) der Seuche beizukommen ist. Es fällt mir schwer, Menschen ernst zu nehmen, die sich von einem Mund-Nasen-Schutz gegängelt fühlen und sich weigern, ihn zu tragen. Ähnlich verhält es sich mit dem Silvester-Feuerwerk. Es ist einfach ein Gebot auch der ersten Stunde des neuen Jahres, aus Anstand Abstand zu halten. Nichts spricht indessen dagegen, 2021 im engsten Kreis mit einem Prosit Neujahr in Empfang zu nehmen. Ich wünsche allen, die diese Botschaft lesen, nicht zu verzagen. Wir werden die Pandemie wegimpfen und den Lockdown abschütteln. Allzu leicht könnten angesichts der Pandemie wichtige Dinge wie Klima, Umwelt, Energiewende, Kriegs- und Krisengebiete, Flüchtlingsströme, das ganze Elend dieser Welt und auch ein einiges Europa aus dem Blick geraten. Ich will nicht müde werden, immer wieder daran zu erinnern.

 

Mein 2020

 

Das zu Ende gehende  Jahr wird mir in mehrfacher Hinsicht als außergewöhnlich in Erinnerung bleiben. Das Virus hat uns einen großen Schrecken eingejagt, bei vielen Angst bis zur Hysterie ausgelöst, hat andere zweifeln und misstrauisch werden lassen. Und jetzt, am Anfang des neuen Jahres, sieht es so aus, als würde uns Covid-19 weiter in Genick sitzen oder – viel schlimmer – auf der Lunge. Wenn da nicht der Hoffnungsfunke Impfstoff wäre, der das Licht am Ende des Tunnels entzündet.

 

Aber gab bei allem Unglück, den Beschränkungen, Ver- und Geboten für mich auch schöne Momente im Corona-Jahr. Da ist allem voran dieses Beagle-Fräulein, das mich Morgen für Morgen mit auf eine Runde durchs Wohngebiet nimmt. Wir haben sie Charlie genannt und nicht daran gedacht, dass allein der Name einen Rüden insinuiert. Natürlich ist der Hund eine Hündin, Mademoiselle Charlie kein Mr. Charly. Inzwischen kennen wir die Artgenossen rundum, Luna, Rocco, Bosco, Balou, Lissi, Mops Brentano und einige mehr. Ich freue mich auch fürs nächste Jahr auf unsere morgendlichen Spaziergänge.

 

Es gab auch viele schöne Quarantäne-Tage im Garten. Nicht nur, weil ich so herrliche Lesestunden unter dem Kirschbaum hatte, wo mir die roten Früchtchen wochenlang fast in den Mund wuchsen.  Und auf der Westseite meines Laubenplatzes reifen über meinem Kopf Quitten, darunter grünt die neu angelegte Wiese, blühen Blumen, zwitschern Vögel, vor mir auf dem Tisch das Glas Riesling, daneben der Kühler mit der Flasche. Ich habe das Phänomen mit Fallstudien wissenschaftlich untersucht: Das Glasgefäß scheint zwar äußerlich unverändert, die Menge aber ist kleiner geworden. Es bereitet mir etwas Sorge, dass unsere Winzer mit der Mehrwertsteuerverringerung auch die Flascheninhalte reduziert haben könnten. Denn als die Nation über die Klopapierbestände herfiel, habe ich mir den Keller gefüllt. Wein wird zum Glück nur von wenigen gehamstert. Das trägt mich über 2020 hinaus. Auf ein weinseliges 2021. Reiner Trabold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13. Dezember 2020

 

Besser schweigen?

 

Bedauerlich, dass ausgerechnet eine so wichtige Gabe des Menschen, das Denken – und dazu rechne ich durchaus oder gerade auch das Quer- und gegen den Strom -denken – in Krisenzeiten oft nicht so richtig gelingen will. So erkläre ich mir beispielsweise, dass ich mich mit der Beurteilung der Lage so schwer tue und vorziehe zu schweigen.  Das ist für einen, der sein Leben damit verbracht hat, quer zu denken und seine Meinung öffentlich zu machen, ein Unding. Aber was soll ich sagen, was nicht andere längst zum Ausdruck gebracht haben? Dass die Deutschen sich bis Oktober 2020 rühmen durften, das Virus gemessen an  vielen rundum gut im Griff zu haben? Wie konnte es passieren, dass uns die zweite Welle der Pandemie so fürchterlich erwischt hat und über uns zusammenschlägt? Und das ausgerechnet jetzt vorm Fest der Feste. Ich glaube, wir haben uns zu sicher gefühlt. Und fühlen uns noch immer zu sicher. Weil der Feind, weil die Gefahr unsichtbar ist. Wer wusste vor neun Monaten, was  Aerosole sind? Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass wir Masken tragen. Nicht ein Halstuch, sondern Dinger, die sich FFP2 nennen. „Filtering face piece“ heißt wörtlich übersetzt  „Gesichtsteil filternd“. Die Zwei bedeutet, dass der Mund-Nasen-Schutz  Keime und Viren nicht durchlässt. Ab 15. Dezember werden sie jetzt endlich zumindest mal kostenlos an die verteilt, die sie am meisten brauchen. Ich frage mich, warum das so lange gedauert hat. Dass manch einer meint,  weil er sich Querdenker nennt (aber in Wahrheit Quertreiber) ist,  er könne auf diesen Schutz verzichten, macht mich nicht sprachlos. Es geht nicht um ihn, sondern um das Leben der anderen. Reiner Trabold