29. August 2020

 

Widerstand

 

Was ich alles im Briefkasten finde: „Demokratischer Widerstand“ nennt sich ein Pamphlet, das jetzt ins Haus geflattert kam. Aufmacher: „Die Märchenhochzeit des Jahrhunderts“. „Die Regierung und eine Handvoll Wissenschaftlerverbreiten Lügen einer de-facto gleichgeschalteten Presse. Oppositionelle Stimmen werden unterdrückt und verfolgt. Am 29. August werden zehn Millionen zur verfassungsgebenden Versammlung in Berlin erwartet. “Alles Quatsch. Das Blatt basiert auf Artikel 20 (4) des Grundgesetzes. Darin heißt es, dass „alle Deutschen das Recht auf Widerstand“ gegen jeden haben, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Eine ultima ratio, die durch den Vorwurf gerechtfertigt wird, die „verfassungsbrüchige Regierung und die Medienpropaganda“ schürten „vollkommen irrationale“ Ängste in der Bevölkerung. Hää!? Angeblich belegt wird das damit, dass die messbare Gefahr durch Covid-19 um ein Vielfaches geringer sei als sie angesichts der emotionalen (irrationalen) Angst scheint. Tatsächlich ist die Zahl der Erkrankten und der Opfer in Prozentzahlen gemessen an der Gesamtbevölkerung verschwindend gering. Dass dies vor allem den Maßnahmen zu verdanken ist, die die „verfassungsbrüchige Regierung“ ergriffen hat, wird geflissendlich verschwiegen. Stattdessen wird behauptet „der Corona-Virus“ sei in Deutschland „quasi nicht mehr aufzufinden“, durch „unwissenschaftliche Tests“ werde die „Panik weiter geschürt“ und die „größte Verfassungsbewegung der Geschichte“ herbeigeredet.

 

Dass die „Wochenzeitung“ Menschen aus aller Welt dazu einlädt, an diesem 29. August nach Berlin zu kommen, „um die alt gewordene Gestalt der Republik zu erneuern“, ist der schlagende Beweis dafür, dass in diesem Land jeder seine Meinung selbst in massenhaft gedruckter Form und im Netz  frei äußern darf. Sei sie noch so dämlich und aus der Luft gegriffen. Wer die repräsentative Demokratie mit ihren frei gewählten Vertretern und Organen dermaßen in Misskredit zu bringen versucht und zum „friedlichen“ Widerstand aufruft, weil eine weltweit grassierende Seuche einige elementare Freizügigkeiten einschränkt, ist fehlgeleitet und hat den tatsächlichen Ernst der Situation nicht erkannt. Veröffentlichungen wie die des „Demokratischen Widerstands“ sind Gift im Fleisch unserer freiheitlichen Ordnung. Ich verstehe sie als Aufruf zur Meuterei, könnte sie aber auch als Satire deuten. Fest steht: Dieser Widerstand stößt auf entschlossenen Widerstand. Reiner Trabold

 

 

27. August 2020

Richter gegen Richter

 

Fünf Kandidaten bei der Bürgermeisterwahl am 1. November in Bensheim

Für die am 1. November geplante Bürgermeisterwahl in Bensheim haben sich fünf Kandidaten beworben: Neben Amtsinhaber Rolf Richter (CDU) treten Manfred Kern (Grüne), Christine Klein (parteilos), Frank Richter (parteilos) und Stefan Stehle (FDP) an. Der Termin für die Bürgermeisterwahl wurde wegen der Corona-Pandemie vom 21. Juni in den November verschoben. Der Wahlausschuss entscheidet am 4. September über die Zulässigkeit der Wahlvorschläge.

Manfred Kern ist in Schwetzingen Steuerberater. Er sitzt seit 2011 im Landtag in Stuttgart. 2016 hat er sogar das Direktmandat erobert. Für die Wahl im nächsten Jahr ist Kern intern Konkurrenz erwachsen. Grund: Parteifreund André Baumann, Staatssekretär im baden-württembergischen Umweltministerium, bemüht um das Mandat im Wahlkreis.

Die Kriminalbeamtin Christine Klein (65), die sich vor zwölf Jahren schon einmal um das Amt bewarb, damals allerdings noch für die SPD, die 2013 auch in Zwingenberg antrat, sich gegen die Amtsinhaber aber nicht durchsetzen konnte, will es – dieses Mal ohne die SPD - noch einmal wissen.

Nach dem Darmstädter Dierk Molter ist Stefan Stehle (30) seit 2002 der zweite Kandidat auf dem Lager der Freidemokraten, der sich in Bensheim ums Bürgermeisteramt bewirbt.

Im letzten Moment ist Nobody Frank Richter auf den Bürgermeisterwahlzug aufgesprungen. Richter gegen Richter heißt es somit am 1. November, wobei dem parteilosen Richter gegen den Amtsinhaber Rolf Richter eher geringe Chancen eingeräumt werden.

In der Riege der Gegenkandidaten zeichnet sich keiner ab, der den derzeitigen Bürgermeister in Bedrängnis bringen könnte. Der einzige, der als Herausforderer ernst zu nehmen gewesen wäre, ist schon Bürgermeister: Philipp Thoma (SPD), in Bensheim Fraktionschef und Oberstudienrat, ist seit 2017 Verwaltungschef in der Gemeinde Fischbachtal. Thomas politisches Talent hatte die Bensheimer SPD geradezu beflügelt. Welche Lücke er gerissen hat, zeigt sich daran, dass die Sozialdemokraten zum 1.11. keinen Kandidaten aufbieten. Reiner Trabold

 

 

 

 

11. August 2020

 

Olaf

 

Nein, keine Überraschung, dass nach Schulz auch ein Scholz die Sozialdemokratie aus dem Tal führen soll. Überraschend allenfalls der frühe Zeitpunkt so weit vor der Nach-Merkel-Wahl im Herbst nächsten Jahres. Da bleibt viel Zeit. Ich will noch nicht glauben, dass die Genossen sie nutzen, sich hinter ihrem Kandidaten zu sammeln. Lasse mich gern eines Besseren belehren. Nominieren muss Olaf Scholz noch ein Parteitag. Dann wird auch klar werden, wie das Wahlkampfprogramm konkret aussieht und wie nah es denen kommt, die bei SPD und Olaf ihr Kreuz machen sollen. Die Seuche hat die Entscheidung für den tüchtigen Finanzminister befeuert. Erst als Manager der Krise hat Scholz erkennen lassen, dass seine betont ruhige Art eine Stärke ist. Dass nun vor allem die Gegenseite wettert, die SPD habe mit ihrem Schachzug den Wahlkampf viel zu früh gestartet, ist verständlich. Denn vor allem die CDU hat ja noch nicht einmal AKK abgeschüttelt, geschweige denn einen neuen Vorsitzenden gefunden, während der überstarke Bayer noch damit beschäftigt ist, sein Interesse an der Kanzlerkandidatur zu dementieren. An Markus Söder, dem im Corona-Fieber gewachsenen Alpha-Mann, führt ebenso kein Weg vorbei wie an Scholz oder am Grünen Robert Habeck. Die Stärke der schwachen SPD ist, dass sie jetzt mit dem Mann an der Spitze endlich Profil gewinnen kann, den sie hat durchfallen lassen. Scholz wird nun zum eigentlichen Chef, Esken und NoWaBo werden ihn nach Kräften unterstützen müssen – wenn sie nicht zu Statisten werden wollen. Nur so hat die SPD eine Chance, mehr zu werden als ein kleiner Koalitionspartner. Reiner Trabold

 

 

10. August 2020

 

Von der Lockerung

 

Im Frühjahr, noch lange vor dem März mit dem Shutdown, war davon die Rede, das Seuchen-Virus werde es im Sommer schwer haben. Stimmt. Schwerer ist exakt. Die Menschen an der frischen Luft (ausgenommen die, die sich die Viren von Klimaanlagen um die Nase wirbeln lassen), meist (wenn auch längst nicht immer) auf Distanz, in geschlossenen Räumen vorschriftsmäßig maskiert. Das hat die Fallzahlen auf ein Minimum gesenkt. Grund zur Lockerung, zur Rückkehr zur Normalität. Dabei wird die zweite Welle gerade programmiert. Die Zahlen steigen, und die Gesundheitsämter heben mahnend die Finger. Gründe für den Anstieg: Da fallen mir vor allem jüngere Leute auf, die fleißig ischgeln und die Gefahr meinen ignorieren zu können. Sie übersehen, dass sie das Virus mit tödlichen Folgen weitergeben können. Zum andern treffen sich viele in kleinen Gruppen, machen Party, feiern sich und tun so, als sei die Pandemie von gestern. Irrtum, Leute, wir stehen am Anfang. Ein Impfstoff ist fern. Ein zunehmend wichtiger Grund für den Anstieg der Zahlen ist, dass zum Ferienende Lustreisende aus Covid-Risiko-Gebieten zurückfliegen. Ein Irrwitz: Nicht nur, dass schon der Flug in dichtbesetzten Kabinen riskant ist, die Urlauber werden bei der Einreise auch nicht zum Test gezwungen (Stationen sind vorhanden). Sie haben stattdessen drei Tage Zeit und können sich dann beim Hausarzt checken lassen. Zwischendrin haben sie Zeit,  anderen von ihren Urlaubserlebnissen zu berichten – und sie zu infizieren. Was soll das? Ungeheuerlich, dass Ferienreisende auch noch auf Kosten der Allgemeinheit getestet werden.  Ähnlich unbegreiflich ist mir, Kinder ohne Maske in die Schule gehen zu lassen. Ein „Experiment“, heißt es. Mit Kindern!? Was ist los in einem Land, das mit der Pandemie bisher so vorbildlich umgegangen ist? Reiner Trabold

 

 

7. August 2020

 

 

E-mobil

 

Jetzt wird klar, was die Kanzlerin meinte, als sie von einer Million E-Fahrzeugen im Jahr 2020 sprach. Es kann sich nur um E-Bikes gehandelt haben. Die verzeichneten schon 2019 mehr als die versprochene Million. Die jährlichen Zuwächse liegen bei 30 Prozent. Davon kann der Automarkt, speziell der für E-Mobile, nur träumen. Das Rad mit Elektromotor war anfangs vor allem was für Senioren. Inzwischen lassen sich selbst die Jüngsten mit Akku-Unterstützung dahinrollern. Und die Politik macht Radlern flugs Wege frei, die vor wenigen Stunden noch dem Auto gehörten. Pendler, die früher den Wagen bestiegen, um zur Arbeit zu kommen, schalten aufs e-mobile Fahrrad um. Es rächt sich, dass es zwar nicht an Fahrrädern fehlt, sondern an vernetzten, breiten Wegen auf und an den Straßen. Da reicht es nicht, wenn findige Straßenverkehrsämter Fahrradstraßen ausweisen, den Rad- vom Autoverkehr trennen und Schilder aufstellen. Es mangelt auch an Unterstellplätzen. Wie auch immer: Auf die durch die Pandemie beschleunigte Veränderung des Individualverkehrs waren die verantwortlichen Planer ebenso wenig vorbereitet wie Hersteller und Handel. Corona ist hoffentlich nur eine Zeiterscheinung, das Rad als Verkehrsmittel der Wahl rollt weiter. Daraus lässt sich mit etwas Verstand und Umsetzungswillen viel machen. Das schwere Auto als Fortbewegungsmittel auf kurzen Wegen bleibt dabei auf der Strecke. Gut so. Reiner Trabold