Michelin-Männchen: Mit großen Stiefeln an Südhessen vorbei

Der Michelin 2020 ist erschienen. Mit einigen Geburtswehen, denn die Gala zur Präsentation fiel dem Virus zu Opfer. Mein erster Kontrollblick fällt immer auf die letzte Seite des Guide. Zwingenberg. Marc-André Kaltwasser hat seinen Bib Gourmand (für bestes Preis-Leistungsverhältnis) behalten. Und es gibt eine kleine Ergänzung, die zumindest erahnen lässt, dass sich die Redaktion über den aktuellen Stand der Speisekarte mit „modern-regionalen Gerichten“ informiert hat. Besonders regional scheint mir die „Spezialität“ Krustentierbisque (vornehm für Suppe) und Tiefseegarnele nicht gerade. Ein Sauerbraten vom Onglet lässt den bei den Innereien nicht so Kundigen erst einmal stutzen. Onglet? Dass es sich um den sogenannten „Nierenzapfen“ oder „Zwerchfellpfeiler“ handelt, verrät mir Hans-Joachim Roses „Küchenbibel“. Weiter genannt: Möhre, Quitte, Petersilienwurzel, Birne – und weiße Schokolade. Was soll ich mit einer solchen Aufzählung anfangen?

 

„Von marinierten Roten Beeten bis  Mandarine und Apfel“ sind als „Spezialitäten“ auch bei meinem zweiten Lieblingsgasthaus, der „Gaststube“ der Krone in Hetschbach, dazugekommen. Für diese List musste ebenso kein Tester in den Odenwald reisen wie für einen Besuch des exzellenten Restaurants von Karl-Ludwig Wölfelschneider, das vor allem für die Weinberatung (400 Positionen) durch Sommelière Iris Wölfelschneider wortidentisch gelobt. Der ambitionierte Koch produziert seit vielen Jahren gleichbleibende Spitzenqualität – und kommt über einen Bib nicht hinaus. Das verstehe, wer will. Wahrscheinlich ist noch nicht durchgedrungen, dass Wölfelschneider sowohl die Gaststube als auch ein Top-Restaurant bekocht.

 

Ähnlich verhält es sich mit den „Drei Birken“ in Birkenau.  Seinen „Bib“ hat das Restaurant von Karl und Christine Gassen zwar behalten. Die beiden betreiben das Haus seit 1976 und bieten Tag für Tag gleichbleibende Spitzenküche, haben es aber trotz beständig hoher Qualität nie zu einem Stern gebracht. Statt einen Tester zu schicken, werden xbeliebige „Spezialitäten“ (von Rehterrine über Kalbsjus bis zum Kirschragout mit Sahne) aufgezählt, aber nicht bewertet.

 

Ganz von der Bildfläche des 2020er Michelin verschwunden ist Reichelsheim. Dass „Treuschs Schwanen“ (2019/20 noch lobend erwähnt) gar nicht mehr aufgeführt ist, verwundert den Feinschmecker ebenso wie es ein zuvor das „O de Vie“ im Landhotel Lorz im Ortsteil Eberbach zu einem Bib gebracht hatte.2020 gehen beide leer aus.

 

Gestrichen wurde auch die „Träumerei“ (2019/20 als „wahres Bijou beschrieben“) in Kombination mit dem bürgerlich-regionalen „Rathausbräu“ in Michelstadt. Immerhin hat der Guide noch die „Bistronauten“ mit einem Bib sowie das „esszimmer in der Alten Post sowie die „Fuchs-sche Mühle“ in Weinheim auf dem Schirm. Ansonsten gähnt die Leere im ganz im kulinarischen Niemandsland Südhessen, wo sinnbildlich auch Darmstadt (mit „Orangerie“, „Trattoria Romagnola“ und „Kavaliersbau“ im Jagdschloss) keine Lichtpunkte setzen kann.

 

Nichts Neues beim „Farmerhaus“ in Groß-Umstadt, wo sich ganz offensichtlich kein Michelin-Test hat sehen lassen. Ein Teller mit Besteck attestiert dem Restaurant immerhin „eine Küche mit guter Qualität“. Bekommt auch nicht jeder. Selbst dann nicht, wenn er’s verdient hätte.

 

Jedes Mal, wenn ich einen neuen Guide Michelin durchblättere und nach den Restaurants schaue, die ich für Leuchttürme der Region halte, stelle ich betrübt fest, dass sich rund um mich herum wenig bis nichts tut. Das in einer der wirtschaftsstärksten Regionen in Europa, in einer „Wissenschaftsstadt“ wie Darmstadt mit Konzernen wie Merck und Software AG, Telekom, ESA und ESOC schwer zu verstehen. Der Guide 2020 ist 200 Seiten dünner geworden als der des Vorjahres, kostet aber trotz Schlankheitskur noch immer 29.95 Euro. Auch dass schwer nachvollziehbar.

 

von reiner trabold